Wie wir die Risiken in Europa meistern können

Rede von Jörg Asmussen, Mitglied des Direktoriums der EZB, 
Union Investment Risikomanagement-Konferenz, Mainz

Mainz, 19-11-2012 — /europawire.eu/ — Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, heute hier in Mainz auf der Risiko-Management-Konferenz zu Ihnen sprechen zu können. Das „Management von Risiken“ ist natürlich nicht nur auf das Feld einer Geschäftsbank begrenzt. Der angekündigte Vortrag für heute Abend, „Risikomanagement im Bergsport“, illus­triert sehr gut die Anwendungsbreite die­ses Begriffs.

Wenn man im Oxford Dic­tionary unter „Risk Management“ nachschlägt, findet man folgende Defi­nition: „the forecasting and evaluation of financial risks together with the identifi­cation of procedures to avoid or minimize their impact.“ Obwohl die Definition dort im engeren Kontext von Firmen angewen­det wird, beschreibt Sie meiner Ansicht nach sehr gut, was in Europa zurzeit auf ganz verschiedenen Ebenen passiert:

  • die Identifikation von Risiken für Wohl­stand, Wachstum und Stabilität in Europa,
  • die Bewertung des Schadenspotentials die­ser Risiken, und
  • die Suche nach Wegen und Verfahren, um diese Risiken in Zukunft zu minimieren oder auszuschalten.

Wenn ich also heute in meiner Rede die Frage beantworten möchte: „Wie wir die Risiken in Europa meistern können“, so geht es letztlich ebenfalls um Risiko­management. Dabei bezieht sich das „wir“ im engeren Sinne auf die Europäische Zentralbank bzw. das Eurosystem.

Gleichzeitig möchte ich aber den Bogen etwas weiter spannen und auch das „Risiko­management“ der Regierungen, also die Politikmaßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene beleuchten.

Im Folgenden möchte ich zunächst einige der wichtigsten Risiken herausheben, die im Zuge der Krisenjahre ans Licht getre­ten sind. Danach möchte ich kurz die Maßnahmen auf nationaler und europäi­scher Ebene zur Krisenbewältigung skiz­zieren und schließlich die aktuellen Schritte und Instrumente der EZB in die­sen Kontext einordnen.

1. Welche Risiken wurden während der Krise offen gelegt?

Seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 standen verschiedene Arten von Ri­siken im Fokus. Zunächst war es der In­terbankenmarkt, bei dem sich die Risikoprämien für unbesicherte Geld­marktgeschäfte hochgeschraubt hatten. Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ist die Krise im Herbst 2008 dann mit voller Wucht auf dem europäischen Bankenmarkt angekommen. Für viele In­stitute stellte sich heraus, dass staatliche Unterstützung vonnöten war, um den 
Zusammenbruch zu verhindern und ein Übergreifen auf den Finanzsektor als gan­zen zu verhindern. Das führte zu einem Risikotransfer auf die Staatshaushalte und in einzelnen Fällen dazu, dass Investoren in Staatsanleihen nun die Solvenz der Staaten selbst fraglicher erschien.

Lassen Sie mich aber hinzufügen, dass die Stützungen des Finanzsystems nicht der einzige Belastungsfaktor für die öffentli­chen Haushalte waren. Die Schuldenkrise traf besonders die Länder im Euroraum, die zu hohe Schuldenstände und Defizite aufwiesen oder zumindest keinen ausrei­chenden Puffer für derartige Stressphasen vorgesehen hatten.

Insgesamt hat sich während der letzten Jahre gezeigt, wie eng verwoben Staats­finanzen und nationale Bankensysteme sind und das die Schieflage in dem einen Sektor auch zu Schieflagen in dem ande­ren Bereich führen kann.

Der eben erwähnte Risikotransfer vom Finanzsektor auf den Staat ist ein Beispiel, aber die Wirkung weist natürlich auch in die umgekehrte Richtung: eine Erhöhung des öffentlichen Kreditrisikos und des damit verbundenen Verfalls der Bewertung von Staatsanleihen, die von den Banken als Aktiva gehalten werde, führt wiederum zu einer Belastung des Finanzsystems.

Im Nachhinein gesehen ist es sehr beun­ruhigend, dass in den Jahren vor der Krise die Risiken einer zu hohen Staatsver­schuldung kaum eingepreist worden sind. Erst im Winter 2008 kam es dann plötz­lich zu einer Differenzierung bei der Ren­dite von Staatsanleihen, wie es seit der Eu­roeinführung noch nicht beobachtet wor­den war.

Man muss also leider feststellen, dass sich das bewahrheitet hat, was schon in dem von Jaques Delors koordinierten Report zur Wirtschafts- und Währungs­union im Jahre 1989 befürchtet wurde: „Experience suggests that market percep­tions do not necessarily provide strong and compelling signals […]. Rather than leading to a gradual adaptation of bor­rowing costs, market views about the cre­ditworthiness of official borrowers tend to change abruptly […]. The constraints im­posed by market forces might either be too slow and weak or too sudden and disrup­tive.“ Die (Neu)bewertung des Risikos ge­schieht und geschah also nicht immer mit Maß.

Im Extremfall kann es bisweilen gesche­hen, dass die Risikoaufschläge für eigent­lich solvente Schuldner Dimensionen an­nehmen, die letztlich an den Rand der In­solvenz führen können. Diese Übertrei­bungen und Verzerrungen bei der Beprei­sung des Risikos stellen also mitunter selbst ein Risiko dar.

Aus Sicht der Geldpolitik können stark überhöhte Risikoaufschläge in kurz- und langfristigen Zinsen die Wirkungsweise der Geldpolitik beeinflussen und damit nicht zuletzt auch für die Preisstabilität im Euroraum gefährlich werden.

Lassen Sie mich das erklären: Unter normalen Um­ständen führt eine Änderung des kurzfris­tigen Leitzinses der EZB zu entsprechen­den Änderungen der längerfristigen Ren­diten verschiedener Wertpapierklassen; das beeinflusst wiederum die aggregierte Nachfrage und letztlich die Inflationsrate im Euroraum. Die von mir angesproche­nen übertriebenen und volatilen Risi­koprämien in den Anleihemärkten ver­schiedener Mitgliedsländer des Euroraums können nun diesen normalen Effekt der Geldpolitik überlagern oder gar zum Teil komplett nivellieren oder umkehren. Die Verzerrungen im geldpolitischen Trans­missionsprozess führen aber nun dazu, dass Kreditnehmer ähnlicher Qualität ganz unterschiedliche Zinsen zu zahlen haben, abhängig davon in welchem Mitgliedsland sie sich befinden.

Die Einheitlichkeit un­serer Geldpolitik mit dem Ziel, Preisstabi­lität für den Euroraum zu gewährleisten, ist in diesem Fall also massiv gefährdet.

Die Krise hat somit sowohl Schwach­punkte in einzelnen Mitgliedsstaaten als auch Konstruktionsfehler der Währungs­union als Ganzes offenbart. Lassen Sie mich die meiner Meinung nach drei we­sentlichen Hauptrisiken nennen, die die Krise offengelegt hat und die ein erhebli­ches Schadenspotenzial für Wohlstand, Wachstum und Stabilität in Europa haben.

Risiko Nummer 1: Öffentliche Haushalts­defizite und Ungleichgewichte im privaten Sektor können gefährliche Ausmaße an­nehmen, mit langfristig negativen Folgen für Wachstum und Beschäftigung.

Risko Nummer 2: Risiken in nationalen Finanzsektoren können zu Belastungen des entsprechenden öffentlichen Haushal­tes führen und umgekehrt. Die wechsel­seitige Verflechtung birgt große Risiken für die Finanzstabilität und die Stabilität der öffentlichen Finanzen.

Risiko Nummer 3: eine falsche Risikobe­wertung und gefährliche Ansteckungsef­fekte auf andere Märkte und Staaten kön­nen die Stabilität unseres Finanzsystems beeinträchtigen. Außerdem kann Instabi­lität im Finanzsystem schnell zum Rück­gang der bereits erreichten Finanz­marktintegration werden. Instabilität und Fragmentierung der Finanzmärkte bedro­hen letztlich auch die geldpolitische Transmission, die Effektivität unserer Geldpolitik und gefährden damit die Er­füllung unseres Mandats der Preisstabili­tät.

Nun gilt es mit überzeugendem und ent­schiedenem „Risikomanagement“ die ge­nannten Risiken anzugehen, d.h. die Ur­sprünge zu ergründen und Maßnahmen zu ergreifen, die die Materialisierung von Ri­siken vermeidet. Ohne solche Maßnahmen bestünde die Gefahr, dass sich die glei­chen Muster, die zur aktuellen Krise bei­getragen haben, in Zukunft wiederholen.

Im Folgenden möchte ich dementspre­chend darauf eingehen, welche Schritte auf nationaler Ebene und im europäischen Rahmen- und Regelwerk unternommen wurden, um die entsprechenden Risiko­faktoren auszuschalten bzw. zu minimie­ren.

2. Initiativen auf Ebene der Mitglieds­staaten und auf europäischer Ebene

Seit 2010 haben die Mitgliedsstaaten des Euroraums begonnen, die fiskalischen Stimuli zurückzufahren und Konsolidie­rungsmaßnahmen zu ergreifen. Entspre­chend ist auch das fiskalische Defizit für den Währungsraum insgesamt im Jahre 2011 gesunken. Allerdings ist die Konso­lidierung der öffentlichen Haushalte recht unterschiedlich vorangeschritten, so dass in 2011 immer noch 11 der 17 Mitglieds­länder eine Defizitquote über dem Maas­trichtreferenzwert von 3% aufwiesen.[1] Eine konsequente Fortsetzung der fiskali­schen Konsolidierung ist also essentiell.

Darüber hinaus sind in vielen Ländern Strukturreformen unverzichtbar, um die Wachstumspotential und die Wettbe­werbsfähigkeit zu stärken. Das hilft mittel­fristig auch wiederum bei der Verbesse­rung der Staatsschuldenquote.

Natürlich wäre es blauäugig zu leugnen, dass dies zum Teil schmerzhafte Anpassungspro­zesse in den einzelnen Mitgliedsstaaten er­fordert. Dies gilt nicht nur für Länder, die diesen Konsolidierungs- und Reformpro­zess als Teil eines formalen EU/IWF An­passungsprogramms durchlaufen. Gleich­zeitig scheint aber auch der Großteil der Bevölkerung die Notwendigkeit von Strukturreformen einzusehen. So halten EU-weit zum Beispiel 78% der Teilneh­mer der letzten Eurobarometer-Umfrage eine „Modernisierung des Arbeitsmarktes, mit dem Ziel, das Beschäftigungsniveau zu erhöhen“ für wichtig. [2] In den Ländern mit Anpassungsprogramm lag dieser Grad der Zustimmung sogar überdurchschnitt­lich hoch bei ca. 85%.

Wie sieht es mit dem Management der Ri­siken auf europäischer bzw. auf EWU-Ebene aus? Ich denke – und das darf man in einem fortwährenden Reformprozess nicht vergessen – dass es hier in den letz­ten Jahren ganz entscheidende Initiativen gegeben hat. Lassen Sie mich kurz nur ei­nige der wichtigsten Bausteine skizzieren.

  • Erstens hat es Meilensteine auf dem Weg zu einem verbesserten institutionellen Rahmen für die Finanz- und Wirtschafts­politik gegeben. – Das Gesetzespaket, das unter dem Namen „Six-Pack“ firmiert, beinhaltet Regelungen, die sowohl den präventiven als auch den korrektiven Teil des Stabilitäts- und Wachstumspakt 
stär­ken. Initiativen wie das sogenannte „Two-Pack“ Gesetzespaket oder das Europäische Semester tragen zur weiteren Verbesse­rung der Überwachung von Finanz-, Wirt­schafts- und Strukturpolitik bei. Schließ­lich haben sich fast alle Mitgliedsländer der Europäischen Union im sogenannten Fiskalpakt dazu verpflichtet, die Regeln für einen ausgeglichenen Haushalt und automatische Korrekturen in ihre nationale Gesetzgebung zu übernehmen
  • Zweitens haben wir mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ein System effektiver Brandmauern zur Vermeidung von Ansteckungseffekten im Fall einer Krise. Der ESM, der seit Oktober dem temporären Europäischen Finanzstabili­tätsfonds nachgefolgt ist, unterstützt Mit­gliedsstaaten in Finanzierungsschwierig­keiten. Im Gegenzug müssen sich die un­terstützten Mitgliedsstaaten zu strikten Auflagen verpflichten, insbesondere im Bereich der Haushaltskoordinierung und bei Strukturreformen. Der ESM gewährt also Hilfe unter Konditionalität. Eine sol­che europäische Institution zur Krisenbe­wältigung hat es vor der Krise nicht gege­ben.
  • Drittens besteht Konsens darüber, dass wir die unvollständige Währungsunion auf längere Sicht um weitere Elemente 
ergän­zen müssen, die erforderlich sind, um den Stabilitätserfordernissen der gemeinsamen Währung zu genügen. Hier geht es um vier Elemente, die einander bedingen und an denen parallel gearbeitet werden muss. Wir brauchen eine Fiskalunion, eine Fi­nanzmarktunion, eine echte Wirtschafts­union und eine demokratisch legitimierte politische Union. Die Staats- und Regie­rungschefs haben die vier Präsidenten van Rompuy, Barroso, Juncker und Draghi im Sommer mit der Erarbeitung konkreter Vorschläge beauftragt. Nach einem Zwi­schenbericht im Oktober laufen jetzt die Arbeiten an der Fertigstellung des Be­richts für den Dezembergipfel auf Hoch­touren.

Während die Reformarbeiten in einigen der von mir soeben genannten Themenfelder sicherlich sehr langen Atem brauchen werden, sind die Arbeiten im Bereich der Finanzmarktunion schon sehr konkret und erste Gesetzgebungsvor­schläge für eine europäische Bankenauf­sicht liegen bereits vor. Lassen Sie mich hierauf im Folgenden etwas näher einge­hen:

Exkurs: Finanzmarktunion

Der Idee einer Finanzmarktunion liegt der Befund zugrunde, dass wir die Fragmen­tierung des Finanzmarktes nur rückgängig und die Finanzmarktintegration vollenden können, wenn Aufsicht, Krisenmanage­ment und Abwicklung von Banken ge­meinsamen europäischen Regelungen und Praktiken folgen. Ein einheitliches Regel­werk wie das von der Europäische Ban­kenaufsicht (EBA) entwickelte „Single Rulebook“ ist dabei eine wichtige Kom­ponente, allerdings muss auch die einheit­liche Umsetzung der einheitlichen Regeln gewährleistet sein.

Vor diesem Hinter­grund ist der Vorschlag der Europäischen Kommission zu sehen, für die Banken im Euroraum einen einheitlichen Aufsichts­mechanismus zu schaffen. Diese Rolle soll der EZB zukommen. Ihre Aufsichtsbefug­nisse sollen sich zunächst auf die Banken des Euroraums erstrecken, wobei sich Banken aus dem Rest der EU auf freiwil­liger Basis anschließen können. Die natio­nalen Aufsichtsbehörden werden dabei nach wie vor die Hauptrolle in der tägli­chen Beaufsichtigung und bei der Umset­zung der EZB-Beschlüsse spielen.

Warum gerade die EZB als zentrales Or­gan der gemeinsamen Bankenaufsicht? Von den 17 nationalen Zentralbanken des Euroraumes, sind 14 auch für die Banken­aufsicht in ihrem jeweiligen Heimatland zuständig. Die Zentralbanken im Euro­raum verfügen also über fundiertes Know-how und praktische Erfahrung in der Ban­kenaufsicht.

Daneben gibt es wichtige Sy­nergien, da die EZB auch in die Überwa­chung des Zahlungsverkehrs eingebunden ist, und im ESRB die makroprudenzielle Aufsicht mitorganisiert. Schließlich ist die EZB als Institution in der Lage die für die neue Aufgabe notwendigen Strukturen und Prozesse zügig zu schaffen.

Allerdings müssen wichtige Punkte be­achtet werden, damit die einheitliche Ban­kenaufsicht unter der Ägide der EZB nicht an anderer Stelle zu Risiken oder Interes­senskonflikten führt. So sind die bankauf­sichtlichen von den geldpolitischen Auf­gaben zu trennen.

Darüber hinaus muss auch für den aufsichtlichen Arm der EZB die operative Unabhängigkeit gewährt sein, wobei Rechenschaftspflichten ge­genüber dem Parlament und ein Rechts­weg gegen Eingriffsmaßnahmen natürlich gewährleistet sein muss.

Außerdem ist es für eine effektive zentrale Aufsicht wich­tig, dass die EZB Zugang zu allen insti­tutsspezifischen Informationen der natio­nalen Aufseher und deren Knowhow hat. Schließlich muss die EZB über hinrei­chend schlagkräftige Durchgriffsrechte verfügen, was insbesondere die Möglich­keit umfasst nicht lebensfähige Banken zu schließen.

Damit möchte ich meine kurze Tour durch den Reformierungsprozess auf europäi­scher Ebene erst einmal abschließen. Ich möchte aber anfügen, dass wir uns hier auf einem längeren Weg zu einer Erneuerung und Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion befinden, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Mit­gliedsstaaten wie auch die europäische Ebene befindet sich in einem Anpas­sungsjahrzehnt.

Gleichzeitig glaube ich aber, dass die be­reits ergriffenen Maßnahmen und Initiati­ven schon jetzt dazu beitragen, einem Großteil der von mir genannten Risiken zumindest teilweise zu begegnen:

  • Das neue finanz- und wirtschaftspolitische Regelwerk liefert verbesserte Anreiz- und Sanktionsmechanismen für solide Staats­finanzen und die Reduzierung von makro­ökonomischen Ungleichgewichten.
  • Die Perspektive für eine gemeinsame Ban­kenaufsicht, und einen Abwicklungsme­chanismus auf europäischer Ebene werden die Rückkopplung zwischen Finanzinsta­bilität und der Belastung der öffentlichen Haushalte auf nationaler Ebene entschär­fen und zur (Re-)Integration der Finanz­märkte beitragen.
  • Marktübertreibungen und Ansteckungsef­fekte können durch geeignete Instrumente des ESM adressiert werden.

Vielleicht klingt diese Charakterisierung etwas idealisiert. In der Tat wird das End­ergebnis entscheidend davon abhängen, wie entschlossen die gefassten Beschlüsse umgesetzt werden und wie zügig die Fort­schritte auf nationaler Ebene sein werden. Die Übergangs- und Umsetzungsphase wird jedenfalls noch ein großes Maß an Disziplin und Entschlossenheit bei allen Akteuren erfordern, und muss sicherlich durch ein angemessenes Krisenmanage­ment begleitet werden.

3. Die Maßnahmen der EZB

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, der Rolle der Geldpolitik in der aktuellen Situation. Wir als EZB haben zu jedem Zeit die vorrangige Aufgabe, Preis­stabilität im Euroraum zu gewährleisten: dieses Ziel verlieren wir auch dann nicht aus den Augen, wenn es an verschiedenen Stellen im Gerüst des Europäischen Wäh­rungsraums knirscht und die Geldpolitik sich verschiedenen Herausforderungen gegenübersieht.

In der Tat musste die EZB seit Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 immer wieder auf Nicht-Standardmaßnahmen zu­rückgreifen, die unsere Standardgeldpoli­tik flankierten. Die Störquellen des geld­politischen Transmissionsmechanismus haben sich über die Zeit immer wieder verschoben. Entsprechend haben sich auch unsere Maßnahmen angepasst: Mengen­tender mit Vollzuteilung, 12-monatige Re­finanzierungsgeschäfte, Ankaufprogramm für gedeckte Schuldverschreibungen, Ak­zeptanz von Krediten an kleine und mitt­lere Unternehmen als Sicherheiten, länger­fristige Refinanzierungsgeschäfte mit 3-jähriger Laufzeit, und zuletzt die Ankün­digung geldpolitischer Outright-Geschäfte (OMT).

Auf die Motivation und die Konzeption der OMTs möchte ich kurz etwas näher eingehen.

Das Ziel der OMTs ist es, den von mir be­reits angesprochenen Verzerrungen auf dem Anleihemarkt zu begegnen, die sich in übermäßigen Risikoprämien nieder­schlagen und die den geldpolitischen Transmissionsprozess und damit die Fä­higkeit, unser geldpolitisches Ziel von Preisstabilität zu erreichen, behindern.

Damit wir den Markverzerrungen effektiv begegnen können und die Funktionsweise der geldpolitischen Transmission erfolg­reich gewährleisten können, haben wir für das OMT-Programm folgende Grundre­geln festgelegt:

Erstens, ist es eine notwendige Bedingung für unsere Interventionen, dass sich das entsprechende Mitgliedsland einem ESM-Programm mit strenger Konditionalität unterzieht.

Zweitens, ist für die OMT-Käufe ex-ante kein Limit vorgesehen.

Drittens, unterliegen die über OMT er­worbenen Anleihebestände der EZB der gleichen Behandlung wie die Bestände von privaten Gläubigern. Die EZB hat also keinen Senioritätsstatus.

Nun wurde von verschiedenen Seiten ein­gewandt, dass das OMT-Programm selbst sehr hohe Risiken aufweisen würde. Dazu zwei Bemerkungen:

Zum einen ist es richtig, dass solche Inter­ventionen in der Tat Risiken für das Euro­system aufwerfen. Aber solche Risiken müssen natürlich mit den Risiken des Nicht-Handelns verglichen werden. Wenn das Haus in Flammen steht, wird die Feuerwehr einschreiten, auch wenn mitunter die Möbel nass werden.

Zum anderen halten wir die Risiken, die mit dem OMT grundsätzlich einhergehen, möglichst klein. Wir betreiben also Risi­komanagement. Das ist nichts Neues für uns: unsere gesamten geldpolitischen Standardmaßnahmen unterliegen einem soliden Risikomanagement. Unser opera­tioneller Rahmen beruht auf der An­nahme, dass alle Offenmarktgeschäfte zu einem bestimmten Grade riskant sind und wir deshalb unsere Bilanz durch ein ent­sprechendes System notenbankfähiger Si­cherheiten schützen müssen.

Für die OMT erfüllt die auferlegte Kondi­tionalität eine ähnliche risiko-mindernde Funktion. Die einem ESM-Programm zu­grunde liegenden Verpflichtungen sorgen dafür, dass die entsprechenden Länder bei ihren Konsolidierungs- und Reformmaß­nahmen nicht nachlassen und ihre Volks­wirtschaften wieder auf einen stabilen Wachstumspfad führen. Es gilt klipp und klar: Verletzt ein Land die Bedingungen, finden keine OMT-Käufe statt.

4. Schluss

Ich komme zum Schluss. Die Krise hat mehrere Konstruktionsmängel der Wirt­schafts- und Währungsunion offen gelegt. Zurzeit wird auf europäischer Ebene an verschiedenen Initiativen gearbeitet, die alle dem Ziel dienen, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vervollständigen, und damit die augenfällig gewordenen Risiken für Stabilität und Wachstum im Euroraum in den Griff zu bekommen.

Uns als Zentralbank kommt in dieser Situ­ation eine wichtige, aber auch eine be­grenzte Rolle im Rahmen unseres Man­dates zu. In einer Zeit, in der Marktver­werfungen die Transmission der Geldpo­litik erschweren, dienen unsere Nicht-Standardmaßnahmen dazu, die Einheit­lichkeit der Geldpolitik zu erhalten und somit unser Mandat der Preisstabilität für den Euroraum als ganzen zu erfüllen. Die übrigen Akteure müssen auch ihre jeweili­gen Hausaufgaben machen, nur so kom­men wir gemeinsam aus der Krise.

„No risk, no fun“ ist definitiv keine pas­sende Devise für Zentralbanker. Vielmehr hoffe ich, dass die Maßnahmen auf euro­päischer Ebene und auf Ebene der Mit­gliedsstaaten die Finanzmärkte und Volkswirtschaften des Euroraums erfolg­reich stabilisieren, so dass die Geldpolitik sich so bald wie möglich vom Krisenma­nagement verabschieden kann.

Vielen Dank.


[1]Vgl. European Commission, “European Economic Forecast”, Autumn 2012.

[2]Vgl. Europäische Kommission, “Standard Eurobarometer 77 – Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union”, Befragung Mai 2012.

Europäische Zentralbank
Direktion Kommunikation
Abteilung Presse und Information
Kaiserstraße 29, D-60311 Frankfurt am Main
Tel.: +49 69 1344 7455, Fax: +49 69 1344 7404
Internet: http://www.ecb.europa.eu

Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.

Follow EuropaWire on Google News
EDITOR'S PICK:

Comments are closed.